32
Da wir aus humanitären Gründen den Sonntag lieber mit Schweigen übergehen, machen wir einen Zeitsprung zum Montag.
Montag, der fünfzehnte Mai.
Montagmorgen können ganz unterschiedlich aussehen. Für die einen ist es die reine Freude, nach einem langen, sich dahinschleppenden Wochenende in Einsamkeit oder ehelicher Misere wieder zur Arbeit zu gehen. Für andere beinhaltet es eine unendliche Quälerei, sich hochzurappeln und eine sinnlose, kreativitätstötende Woche vor sich zu haben. Für wieder andere ist es eine Qual, sich vorzustellen, daß jetzt alle anderen zur Arbeit gehen, all die Glücklichen, die überhaupt eine Arbeit haben, zu der sie gehen können.
Aber es gibt noch eine weitere Kategorie: Glückspilze, die trotz eines außergewöhnlich erfreulichen Wochenendes in kindlicher Erwartung der Arbeit entgegensehen.
Einer der letzteren hieß Paul Hjelm.
Er kehrte zu Leonard Sheinkmans Tagebuch aus jener furchtbaren Woche im Februar 1945 zurück. Das Tagebuch lag im Polizeipräsidium – und wäre das nicht der Fall gewesen, hätte der Sonntag nicht mit Schweigen übergangen werden können.
Er fand nämlich eine ganze Menge.
Es fing jedoch schleppend an. Obwohl ›schleppend‹ kaum das richtige Wort ist. Es begann eher mit Selbstverachtung.
Er fühlte sich wie ein Vergewaltiger.
Die zehn vergilbten Seiten des Tagebuchs waren auf dem Schreibtisch ausgebreitet. Die Stellen, wo der Bleistift das Papier berührt hatte, formten eine Schrift. Diese Schrift war nicht nur gelagerte Information über ein objektiv rekonstruierbares Geschehen in der Vergangenheit.
Es waren Worte vom Rand des Todes, und diese Worte hatten in ihm Widerhall erzeugt und ihn in den Abgrund gestoßen. Er hatte geweint zu diesen Worten, ein Weinen, das aus den innersten Winkeln der Seele kam. Die Worte hatten eine Zeit und eine Erfahrung wachgerufen, die allmählich verblaßte. Sie kamen ihm auf eine gewisse Weise heilig vor.
Dieser Text lag jetzt vor ihm, ausgebreitet wie ein Vergewaltigungsopfer, und er wollte sich jetzt darüber hermachen mit dem ganzen Arsenal von rationalen Strukturen, auf dem die abendländische Fortschrittsgesellschaft aufbaute: Logik, analytische Schärfe, stringente Penetration.
Er würde den Text ganz einfach vergewaltigen.
Wie es einem guten europäischen weißen heterosexuellen Mann in mittleren Jahren ansteht.
Ihn anderseits ungestört in seinem Kokon ruhen zu lassen, das hieße, vor der Wahrheit zurückzuweichen, auf Erkenntnis zu verzichten, einen mythischen, unveränderlichen Zustand des Bebens zu akzeptieren, in ein Zeitalter des Dunkels zurückzutreten und finsteren, unmenschlichen Kräften den Weg zu bereiten.
Gab es nicht eine Methode, nüchtern und scharf zu analysieren und dennoch – vielleicht gerade dadurch – das betroffene Mysterium am Leben zu erhalten?
Dies schien die entscheidende Frage zu sein. Und nicht nur, was Leonard Sheinkmans Tagebuch betraf, auch nicht nur für diesen Fall in seiner Gesamtheit, sondern auch für die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit.
War es das, was Kerstin erkannt hatte?
Hatte sie erkannt, daß wir ohne das Mysterium nur leere Hüllen sind?
In diesem Augenblick überwand Paul Hjelm sich selbst (wie man zu sagen pflegt, wenn die Dinge wieder in die eingefahrenen Gleise zurückkehren) und machte sich an den Text. Mit Hilfe von Logik, analytischer Schärfe und stringenter Penetration nahm er sich Leonard Sheinkmans Tagebuch aus einer für dessen weiteres Leben entscheidenden Woche im Februar 1945 an, kurz vor Kriegsende.
Leonard Sheinkman hatte sich nicht in Buchenwald befunden, in jenem grauenhaften Konzentrationslager, das im Juli 1937 vor den Toren der Kulturstadt Weimar errichtet wurde, auf einer öden Anhöhe mit Namen Ettersberg. Dort gab es definitiv keine Kirche vor dem Fenster.
Zwei Alternativen waren denkbar: Entweder war die Kirche lediglich ein Bild, ein Gleichnis, um ›die Zeit zu sehen‹, wovon Sheinkman die ganze Zeit sprach, oder sie existierte tatsächlich und war zugleich ein Bild, um ›die Zeit zu sehen‹. Für letzteres sprach, daß diese Kirche so detailliert beschrieben wurde, und außerdem in Verbindung mit den Bombardements durch die Alliierten, die ja im Februar 1945 in Deutschland verstärkt wurden.
Alles deutete darauf hin, daß Sheinkman sich in einer Stadt befand, nicht auf einer öden Anhöhe.
Warum hatte er dann sein ganzes späteres Leben hindurch behauptet, er sei in Buchenwald gewesen? Warum hatte er seinen Kindern konkret gesagt, daß er in Buchenwald gesessen hatte?
Auch hier gab es zwei Möglichkeiten: Entweder hatte er in dieser Stadt so Entsetzliches erlebt, daß ihm selbst der Alptraumort Buchenwald wie eine freundlichere und leichter zu handhabende Alternative vorkam, oder aber – er hatte etwas zu verbergen.
Paul Hjelm wartete damit. Er wartete auch mit der Stadt, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt wohl nicht zu identifizieren war. Statt dessen nahm er sich der beschriebenen Örtlichkeit an.
Offenbar handelte es sich um eine Institution. Die Gefangenen sitzen in einer Art von Zellen. Es gibt eine Liste, und wenn man ganz oben auf dieser Liste landet, wird einem etwas Entsetzliches zugefügt. Das Ergebnis ist, daß auf irgendeine Art und Weise die Persönlichkeit ausgelöscht wird. Wie es bei dem Kameraden Erwin der Fall ist. Wenn ich ihn anspreche, ist er nicht da. Eine leere Hülle. Wo der Inhalt aus dem Kopf herausgelassen worden ist, sitzt eine unschuldige kleine Kompresse. Diese Kompresse kehrt wieder. Die Kompressen leuchten wie Laternen von den geleerten Schädeln. Und: Bald wird die kleine Kompresse an meiner Schläfe sitzen.
Schläfe, dachte Paul Hjelm und schloß die Augen.
Natürlich.
Eine dünne Wand trennte Paul Hjelm von Kerstin Holm. Auf der anderen Seite dieser Wand wurde ein Gespräch mit Europa geführt. Genauer gesagt mit Professor Ernst Herschel am Historischen Institut der Universität Jena.
Er war sehr widerwillig.
Eine Herausforderung, sozusagen.
»Es war falsch, es Josef gegenüber zu erwähnen«, sagte er in einem akademischen Englisch. Gebrochen, aber grammatikalisch fehlerfrei.
»Josef?« sagte Kerstin Holm.
»Josef Benziger in Weimar. Er hat eine Zeitlang bei mir studiert. Ein sehr vielversprechender Mann. Ich begreife nicht, wie er Polizist werden konnte.«
»In welchem Zusammenhang haben Sie es Josef gegenüber erwähnt?«
»Wir trafen uns auf ein Bier, und ich machte ihm Vorwürfe, weil er die Forscherausbildung nicht zu Ende gebracht hatte. Bei der Gelegenheit unterlief mir die Unvorsichtigkeit, mein neues Forschungsprojekt zu erwähnen. Hauptsächlich, um ihm zu zeigen, was für Leckerbissen ihm entgangen waren.«
»Es dreht sich also um Ihr neues Forschungsprojekt?«
Schweigen in Jena.
Kerstin fuhr fort: »Was hindert Sie daran, dieses neue Projekt zu diskutieren?«
»Verschiedene Gründe, Frau Holm.«
»Fräulein«, sagte Kerstin Holm jugendlich.
»Es handelt sich um ein überaus heikles Projekt, Fräulein Holm. Ich hoffe, in zwei Jahren mit meinem Forscherteam so weit zu sein, daß wir fertige Ergebnisse publizieren können. Im Augenblick befindet sich das Projekt in einem wissenschaftlich recht unbefriedigenden Zustand.«
Akademische Reviere, dachte Kerstin Holm. Hier mußte man seine Worte auf der Goldwaage wiegen. Wahrscheinlich winkte eine gutdotierte amerikanische Gastprofessur, und die zu opfern war der Professor nicht bereit.
Nicht einmal, um eine internationale Mordermittlung zu unterstützen.
Sie konnte ihn zwingen. Sie konnte mit harten Bandagen vorgehen, einen Gerichtsbeschluß erwirken und ihn zum Sprechen zwingen. Aber einerseits würde das zu lange dauern, anderseits würde bei diesem Vorgehen viel Wichtiges, Dinge, die man nur im Vertrauen sagt, verlorengehen. Sie mußte sich behutsam vortasten.
»Wir werden keine wissenschaftlichen Ergebnisse preisgeben«, sagte sie.
Professor Herschel lachte auf. »Aber Fräulein Holm«, sagte er. »Wir sind beide im öffentlichen Dienst tätig. Wir wissen, wie wenig wir im Verhältnis zu jedem kleinen Laufburschen in der freien Wirtschaft verdienen. Die Welt ist im Moment extrem ungerecht, und ich würde Ihnen nicht einmal einen Vorwurf machen, wenn Sie die Information für Hunderttausende von Mark an die Bild-Zeitung verkauften. Aber wir wissen beide, daß öffentliche Institutionen so durchlässig sind wie Siebe. Alles, was die Polizei weiß, wissen binnen weniger Stunden auch die Medien.«
»Sie haben vollkommen recht«, sagte Kerstin Holm.
»Wie wollen wir denn jetzt verfahren? Haben Sie einen Vorschlag?«
Neues Schweigen in Jena. Doch diesmal hatte sie den Eindruck, daß es ein anderes, ein nachdenkliches Schweigen war.
»Und noch etwas«, sagte Herschel. »Ich weiß, daß sie glauben, es handele sich nur um akademische Reviere, das höre ich an Ihrer Stimme. Aber es gibt noch einen wichtigeren Aspekt. Sind Sie einmal im Hitlerbunker in Berlin gewesen?«
»Nein«, sagte Kerstin Holm.
»Das sind sehr wenige. Und so soll es auch sein. Er darf auf gar keinen Fall zu einem Wallfahrtsort für den anwachsenden Neonazismus werden. Die Geschichte und die wissenschaftliche Wahrheit müssen gegen praktische Aspekte abgewogen werden. Es ist eine Frage der Pragmatik. Was dient der Demokratie mehr? Die Wahrheit oder das Schweigen?«
»Wir sprechen also über einen neuen potentiellen Wallfahrtsort für Neonazis?«
»Ja«, sagte Ernst Herschel.
»Ich verstehe«, sagte Kerstin Holm.
Es war einen Moment still. Herschel dachte an das rasche Anwachsen des Neonazismus in der undemokratisch geschulten ehemaligen DDR. Holm dachte an die Erinnyen. Sie fragte sich, ob sich das Bild, das sie sich von ihnen machte, allmählich veränderte.
Schließlich sagte sie: »Ich kann Ihre Besorgnis sehr gut verstehen. Professor Herschel. Es ist eine durchaus berechtigte Sorge um die Zukunft. Aber die Zukunft muß auch gegen die Gegenwart abgewogen werden. Und Ihre Schweigepflicht muß gegen meine abgewogen werden. Ich werde Ihnen jetzt etwas sagen, das der äußersten Geheimhaltung unterliegt.«
Neues Schweigen in Jena. Wieder eine neue Sorte. Ein lauschendes Schweigen.
Kerstin Holm fuhr fort: »Ich arbeite gegenwärtig mit mehreren europäischen Ländern im Rahmen einer gemeinsamen Ermittlung zusammen. Bisher sind im Laufe eines guten Jahres in Schweden, Ungarn, Slowenien, England, Italien und Deutschland sieben Menschen ermordet worden. Sie sind alle auf die gleiche Art und Weise ermordet worden; sie wurden mit dem Kopf nach unten an den Füßen aufgehängt, dann wurde ihnen eine sehr spezielle steife Nadel in die Schläfe eingeführt und im Schmerzzentrum der Hirnrinde hin und her bewegt.«
Neues Schweigen in Jena. Langsam akzeptierend, langsam immer bereitwilliger.
»Ich verstehe«, sagte Ernst Herschel schließlich. »Die Zukunft ist bereits da.«
»So kann man die Sache wohl formulieren.«
»Wer steckt dahinter?«
»Das wissen wir nicht, aber wir nennen sie die Erinnyen.«
Wieder Schweigen in Jena. Ein Schweigen der Vorbereitung. Dann barst die Stille: »Als die Mauer fiel, war Weimar eine gefallene DDR-Schönheit«, begann der Professor.
»Zehn Jahre später war die Stadt – mit sechzigtausend Einwohnern – Kulturhauptstadt Europas. Hier wirkten Cranach, Bach, Goethe, Schiller, Herder, Wieland, Liszt, Nietzsche, Strauss, Böcklin, die Bauhaus-Architekten. Hier wurde die erste deutsche Demokratie geschaffen. Hier wurde das allererste Parteitreffen der Nationalsozialistischen Partei abgehalten. Hier wurde die Hitlerjugend ins Leben gerufen. Hier wurde Buchenwald gebaut, zuerst deutsches, danach sowjetisches Konzentrationslager. Das Beste und das Schlechteste der europäischen Kultur findet sich hier nebeneinander.«
Der Professor machte eine Pause und fuhr dann fort:
»Einige Jahre nach dem Fall der Mauer wurde am Rand des Stadtkerns von Weimar ein verfallenes und verbarrikadiertes Gebäude geöffnet, nicht weit vom Weimarhallen-Park. Das Gebäude war seit dem Krieg nicht geöffnet worden. In seinem Keller wurden die Überreste einer medizinischen Forschungsabteilung entdeckt. Sie war offenbar in höchster Eile verlassen worden. Man hatte versucht, so gut es ging, alle Spuren zu verwischen. Die Archive lagen zerstört und teilweise verbrannt im Keller. Es gab Zellen mit sehr dicken Fensterscheiben und ein paar geräuschisolierte zentrale Forschungsräume. Ich wurde sogleich hinzugezogen, sorgte dafür, daß kein Wort an die Medien drang, und sammelte einen kleinen Kreis von Forschern um mich. Minutiös untersuchten wir jeden einzelnen Quadratmeter des Gebäudes. Es dauerte mehrere Jahre. Jetzt werten wir die Funde aus. Das Gebäude ist vor ein paar Jahren vollkommen renoviert worden.«
»Und was für ein Institut war es?« fragte Kerstin Holm atemlos.
»Es wurde Schmerzzentrum genannt«, sagte Ernst Herschel.
Auf der anderen Seite der dünnen Wand las Paul Hjelm weiter in Leonard Sheinkmans Tagebuch.
Es wurde immer deutlicher.
Die Gefangenen in dem Gebäude standen Schlange in Erwartung eines Experiments, das an ihnen durchgeführt werden sollte: Ihre Seelen wurden durch ein kleines Loch in der Schläfe entleert, wo anschließend eine Kompresse angelegt wurde, um die Wunde zu verbergen.
›Erwin starb vor Schmerz.‹
Gleichzeitig fallen die Bomben der Alliierten um die Hausecke. Leonard Sheinkman kommt der Spitze der Liste immer näher. Schließlich ist er da. Das Tagebuch endet genau zu dem Zeitpunkt, als er weggeführt werden soll. Statt dessen wird er befreit. Der Gong rettet ihn. Er emigriert nach Schweden und löscht seine fürchterliche Vergangenheit aus.
Zwei Dinge von Bedeutung werden erwähnt, dachte Paul Hjelm mit messerscharfer abendländischer Logik. Zum einen die Kirche, zum anderen die Quälgeister.
Der Quälgeister scheinen drei an der Zahl zu sein. Am neunzehnten Februar spricht Sheinkman von ihnen. Sie sind anscheinend etwas unterschiedlich im Wesen. ›Ich kenne ihre Namen nicht. Sie nennen keine Namen. Es sind drei anonyme Mörder. Aber sie sind einander nicht gleich. Nicht einmal die Mörder sind sich gleich.‹
Sheinkman bekommt Kontakt zu einem von ihnen. ›Der freundlichste von ihnen. Er ist weniger deutsch als ich und sehr blond. Und er sieht sehr traurig aus. Er tötet mit Trauer in den Augen.‹ Das ist der erste.
Dann geht es weiter: ›Die beiden anderen tun das nicht. Einer tötet aus Interesse. Er ist nicht grausam, nur kalt. Er betrachtet, beobachtet, führt Buch.‹ Das ist der zweite.
Und dann gibt es noch einen. ›Aber der dritte, der mit einem kleinen lila Muttermal am Hals, das die Form eines Rhombus hat, er ist grausam. Er will töten. Ich kenne diesen Blick von früher. Er will, daß man leidet. Dann soll man sterben. Danach ist er zufrieden.‹
Paul Hjelm schrieb und systematisierte.
Quälgeist 1: Sehr blond, nicht deutsch, traurig.
Quälgeist 2: Eiskalt, passionierter Wissenschaftler.
Quälgeist 3: Grausam, sadistisch, rhombenförmiges kleines Muttermal am Hals.
Mehr war dem Tagebuchtext nicht zu entnehmen.
Statt dessen die Kirche. Die Stadt. Wo werden Leonard Sheinkmans Ehefrau und Sohn getötet? Es ist ein Lager. ›Sie sollten zum Hinrichtungsplatz des Lagers und erschossen werden.‹ Aller Wahrscheinlichkeit nach ist es wirklich Buchenwald. Danach wird er verlegt. ›Und ich bin hier gelandet.‹
Seinen Kindern sagt er, er habe in Buchenwald gesessen. Falls es sich so verhält, daß er nicht besonders weit fort verlegt wird, ist es sehr wohl denkbar, daß er meint, noch immer in Buchenwald zu sein. Einem Annex von Buchenwald.
Also Weimar.
Die Kirche. Achtzehnter Februar. Diese eigentümliche Beschreibung des konkreten Aussehens der Zeit. ›Die Zeit hat einen weißen Grund. Der weiße Grund ist vielleicht vierkantig. Dann kommt das Schwarze. Das Schwarze besteht aus drei Stücken. Das untere schwarze Stück ist sechskantig. Auf drei der sechs Flächen, jeder zweiten, sind zwei Fenster übereinander. Das untere ist etwas größer als das obere. Und unmittelbar über dem oberen beginnt das nächste Stück, das Zwischenstück. Es ist ebenso schwarz und hat die Form einer kleinen gewölbten Mütze. Da sitzt die Uhr. Zuletzt kommt die Spitze. Die Spitze ist auch schwarz und sieht scharf aus wie eine Nadelspitze.‹
Paul Hjelm ging ins Internet und suchte Weimar. Es stimmte tatsächlich, daß im Februar 1945 die Bomben der Alliierten auf Weimar fielen. Er fand eine Übersicht über die Kirchen der Stadt. Sie waren abgebildet.
Der Dom, die Stadtkirche, war ein großes Ding, das im Krieg zerstört worden war, doch sie war es nicht. Kein Punkt stimmte. Die zweite große Kirche der Stadt lag etwas weiter im Norden. Sie hieß Jakobskirche. Es war eine weiße Kirche mit einem schwarzen Turm in drei Segmenten, zuerst ein sechskantiges, bei dem jede zweite Fläche von zwei übereinander liegenden Fenstern geschmückt wurde, das untere davon etwas größer als das obere. Das nächste Segment hatte die Form einer kleinen gewölbten Mütze mit einer Uhr. Ganz oben saß die Spitze, sie sah aus wie eine Nadel.
Es bestand kein Zweifel.
Leonard Sheinkman hatte durch das Fenster die Jakobskirche in Weimar gesehen und sie mit der Zeit gleichgesetzt.
Auf der anderen Seite der Wand ging Kerstin Holms immer ergiebigeres – und immer schrecklicheres – Gespräch mit Ernst Herschel in Jena weiter.
»Schmerzzentrum?« fragte sie.
»Sie nannten es Schmerzzentrum«, sagte er. »Man experimentierte mit dem Schmerzzentrum des Gehirns. Der Hirnrinde. Das Ziel der Versuche war, beim Versuchsobjekt die größtmögliche Schmerzempfindung hervorzurufen. Die Prozedur wurde nach und nach experimentell entwickelt. Allem Anschein nach hatte es in Buchenwald mit einfachen Schmerztests angefangen. Die Ergebnisse schienen so vielversprechend zu sein, daß eine Dependance eingerichtet wurde, vermutlich auf persönlichen Befehl Himmlers. Hier kamen die Experimente ernstlich in Gang. Allmählich fand man heraus, daß eine erhöhte Blutzufuhr im Gehirn dazu beitrug, den Schmerz zu verstärken, und man fing an, die Versuchsobjekte mit dem Kopf nach unten aufzuhängen. Auch die lange Nadel wurde experimentell entwickelt. Man war offenbar einem Durchbruch sehr nahe, als die amerikanischen Truppen Weimar einnahmen. Das Archiv bricht Ende März abrupt ab. Anfang April marschierten die Amerikaner ein. Wahrscheinlich hat man beim Herannahen des Endes die Sachen gepackt und sich in Luft aufgelöst. Es wurde nie jemand zur Verantwortung gezogen. Tatsache ist, daß die Existenz des Instituts völlig unbekannt war, bevor wir das Gebäude öffneten. Alle übrigen Spuren sind verschwunden.«
»Sind die Verantwortlichen identifiziert?« fragte Kerstin Holm. Sie erkannte ihre eigene, sonst so wohlklingende Altstimme nicht wieder.
»Nicht ganz«, sagte Ernst Herschel. »Was wir wissen, haben wir dem Jüdischen Dokumentationszentrum in Wien mitgeteilt. Simon Wiesenthal, Sie wissen ja.«
»Ja«, sagte Kerstin mit der gleichen wunderlich krächzenden Stimme. »Und was wissen Sie?«
»Daß es drei verantwortliche Offiziere und Wachsoldaten gab. Alle von der SS.«
»Namen?«
»Nur zwei von ihnen. Leider.«
»Welche Namen haben Sie?«
»Lassen Sie mich zunächst die Befehlsordnung erklären. Zwei der drei waren Ärzte. SS-Ärzte, wenn Sie die Tragweite einer solchen Bezeichnung verstehen. Ärzte – und Offiziere, natürlich. Der dritte war kein Arzt. Er war der Chef. Das ganze Institut, das Schmerzzentrum, war sein Werk. Er hieß Hans von Heilberg. Er sorgte selbstverständlich dafür, daß sämtliches Material über ihn verbrannt wurde, und ansonsten ist seine Existenz in anderen Kriegsarchiven nur sehr sporadisch belegt. Nach dem Krieg findet sich keine Spur von ihm. Wir wüßten überhaupt nichts von ihm, wüßten nicht, wer der Leiter des Instituts war, wenn er nicht von einem der Ärzte wegen eines Leidens behandelt worden wäre. Ein Muttermal hatte angefangen zu bluten, und er fürchtete, er habe Hautkrebs. Das war im August 1944. Seine Befürchtung wurde von dem Arzt als ›chronische Hypochondrie‹ abgetan.«
»Ein Muttermal?«
»Ein Muttermal am Hals. Es hatte unserer Information zufolge die Form eines Rhombus. Das ist alles, was wir über Hans von Heilbergs Äußeres wissen.«
»Und die Ärzte?«
»Über einen von ihnen wissen wir sehr wenig. Es gelang ihm, sämtliche schriftlichen Spuren zu vernichten. Doch seltsamerweise vergaß er ein Foto. Wir haben also ein Bild von ihm. Es ist das einzige Bild überhaupt, das wir haben.«
»Und der zweite?«
»Ich habe es ein bißchen hinausgezögert, wie Sie sicher bemerkt haben, Fräulein Holm. Er stellt ein Problem für Sie dar. Für Ihre ganze neutrale Nation. Der zweite SS-Arzt war nämlich Schwede.«
»Schwede?«
»Über ihn haben wir am meisten Information. Er war nicht ganz so akribisch wie die anderen beim Verwischen seiner Spuren. Vielleicht glaubte er nicht, daß er überleben würde. Vielleicht war ihm alles gleichgültig. Er hieß Anton Eriksson.«
»Jesses«, sagte Kerstin.
»Ich weiß, daß Sie endlich angefangen haben, sich mit Ihrem nationalen Erbe aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs auseinanderzusetzen, Fräulein Holm. Sie haben in der Waffen-SS und hier und da ein bißchen Kanonenfutter gefunden. Aber auf einen schwedischen SS-Mann dieser Größenordnung sind Sie bisher nicht gestoßen. Das war auch einer der Gründe für meine anfängliche Zurückhaltung. Ich habe mich gefragt, ob ich die Angelegenheit nicht zuerst auf einer etwas höheren Ebene zur Sprache bringen sollte. Aber jetzt ist es gesagt. Machen Sie damit, was Sie wollen.«
»Das werde ich«, sagte Kerstin Holm.
»Ich faxe Ihnen das Material zu«, sagte Herschel.
Sie trafen sich im Gang auf Höhe der dünnen Wand, die ihre Zimmer voneinander trennte. Jeder zeigte auf den anderen.
»Weimar«, sagten sie unisono.
Dann gingen Paul Hjelm und Kerstin Holm in Kerstins Zimmer. Sie informierten sich rasch gegenseitig über ihre jeweiligen Fortschritte. Danach betrachteten sie ein Fax, das gerade ausgeworfen wurde. Es handelte von Anton Eriksson. Und es enthielt eine sehr undeutliche, fast schwarze Fotografie des dritten Mannes.
»Drei Männer«, sagte Paul Hjelm. »Quälgeist drei dürfte identifiziert sein. ›Grausam, sadistisch, rhombenförmiges kleines Muttermal am Hals.‹ Hans von Heilberg. Der Leiter.«
»Dieses Foto sagt ja nicht viel«, meinte Kerstin Holm.
»Aber deine Zusammenfassung von Quälgeist eins hört sich nach einem denkbaren Anton Eriksson an. ›Sehr blond, nicht deutsch, traurig.‹ Daß gerade der Traurige es unterläßt, seine Spuren gründlich zu verwischen, wirkt glaubhaft. Er war wohl schon von seinem Gewissen aufgefressen.«
»Sollen wir dann annehmen, daß Quälgeist zwei – ›eiskalter Wissenschaftler‹ – der unidentifizierte Mann auf dem Foto ist? Der Umstand, daß er alle anderen Spuren vernichtete, läßt wohl auf eine gewisse kühle Rationalität schließen.«
Eine Weile saßen sie da und dachten nach, jeder für sich. Dennoch waren ihre Gedanken fast gleich. Als wären ihre Hirne durch keinen Knochen und keinen Knorpel getrennt.
»Was haben wir jetzt hier?« sagte Paul Hjelm schließlich. »Wie sind die Erinnyen zu dieser Hinrichtungsmethode gekommen? Warum gehen sie genau nach dieser Methode vor, wenn sie Zuhälter hinrichten? Und wo zum Teufel kommt Sheinkman dabei ins Bild? Er hätte hingerichtet werden sollen. Er war an der Spitze der Liste. Er kam davon. Wie ist er davongekommen?«
Kerstin übernahm: »Und warum erzählte er nie etwas davon? Hätte er die Welt nur darüber informiert, daß dieses grauenhafte, verfluchte Institut existierte, dann hätte man alle drei festnehmen können. Man hätte auf jeden Fall gleich nach Kriegsende nach ihnen fahnden können. Statt dessen hielt er es über ein halbes Jahrhundert geheim.«
»Er blätterte die Seite im Buch des Lebens um«, sagte Paul. »Er löschte seine Vergangenheit aus. Er wollte nichts mehr davon wissen. Er entfernte sie. Wie einen Tumor.«
»Sie müssen es von Herschel erfahren haben«, sagte Kerstin und stand auf.
»Wer?«
»Die Erinnyen können nur eine einzige Quelle für die Kenntnis des Aufhängens mit dem Kopf nach unten und dieser Nadel im Gehirn gehabt haben, und das ist das Forscherteam in Weimar.«
»Ruf an und frag, wer davon wußte. Alle überhaupt. Wer betrat als erster das Haus? Wen hat er informiert? Wie erreichte die Information Herschel? Wie lief es ab, als er sein Forscherteam zusammenstellte? Wer gehörte dazu? Was gab es sonst noch für Personal? Wie ging es vor sich, als das Haus renoviert wurde?«
»Du hast recht«, sagte Kerstin und griff zum Hörer.
»Und doch wieder nicht«, sagte Paul. »Es gibt andere mögliche Quellen. Wenn Sheinkman überlebt hat, können auch andere überlebt haben. Die Wachsoldaten im Schmerzzentrum. Und dann natürlich noch drei Personen.«
»Drei Kriegsverbrecher, die vor mehr als fünfzig Jahren untergetaucht sind«, nickte Kerstin.
»Ruf trotzdem an«, sagte Paul.
Kerstin redete eine Weile mit Ernst Herschel. Er versprach, eine Liste mit sämtlichen denkbaren Namen zusammenzustellen, auch darüber wann und wie die Betreffenden von der Methode erfahren haben konnten.
»Noch eins«, sagte Kerstin. »Gab es irgendwelche Listen über die Versuchspersonen?«
»Ja«, sagte Ernst Herschel. »Aber es sind lediglich Buchstabenkombinationen. Keine Namen. Keine Individuen. Nur Buchstaben. Es war wohl am einfachsten so.«
»Vermutlich«, sagte Kerstin Holm. »Noch einmal vielen Dank für Ihre Hilfe. Und bereiten Sie sich auf einen Besuch vor.«
»Wieso?« fragte der Professor.
»Wir schicken einen Mann zu Ihnen hinunter«, sagte Kerstin und legte auf.
»Arto?« fragte Paul.
»Unser weitgereister Freund«, sagte Kerstin.
Dann machten sie sich daran, wie mit einem einzigen Paar Augen die Akte des schwedischen SS-Arztes Anton Eriksson durchzulesen.
Das war das Schmerzzentrum.